Der Wachstumspfad ist intakt, die Schockwellen nach dem Brexit- Entscheid machen sich noch immer bemerkbar: Im September hat das Ökonomen-Barometer von €uro am Sonntag und dem Nachrichtensender n-tv wieder einen leichten Dämpfer erhalten. So schätzen die führenden Volkswirte die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland wieder etwas schlechter ein als im August. Der Barometerwert sinkt um 1,5 Prozent auf 62,2 Punkte. Die Aussichten für die kommenden zwölf Monate fallen um 6,4 Prozent auf 59,5 Punkten und erreichen damit den niedrigsten Stand seit April dieses Jahres.
von W. Ehrensberger, Euro am Sonntag (zum Artikel auf finanzen.net)
Im Vormonat war das Barometer nach dem Brexit-Schock im Juli zunächst wieder auf Wachstumskurs gegangen. Die jüngsten Schwankungen spielen sich jedoch weit oberhalb der 50-Punkte-Linie ab, die eine Rezession signalisiert.
Die stabile Konjunktur, der boomende Arbeitsmarkt und sinkende Zinskosten haben dem deutschen Staat im ersten Halbjahr einen Rekordüberschuss im Haushalt beschert. Bund, Länder, Kommunen und Sozialkassen nahmen nach Zahlen des Statistischen Bundesamts in den ersten sechs Monaten 2016 insgesamt 18,5 Milliarden Euro mehr ein, als sie ausgaben.
Neue Spielräume
Einen so hohen Überschuss zur Jahresmitte hat es nach der Wiedervereinigung noch nicht gegeben. Damit eröffnen sich ein Jahr vor der Bundestagswahl neue Ausgabenspielräume. Wohin die Mittel fließen sollen, darüber wird bereits heftig diskutiert. Für drei Viertel der im Ökonomen-Barometer befragten Volkswirte sollte die Priorität auf Infrastruktur-Investitionen liegen, zum Beispiel im Verkehrswesen.
Für Bildungsinvestitionen sprechen sich gut zwei Drittel der Befragten aus. 58 Prozent halten Steuersenkungen für sinnvoll, also beispielsweise einen höheren Grundfreibetrag, den Abbau des sogenannten Mittelstandsbauchs im Einkommensteuertarif, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags oder eine höhere Schwelle für den Beginn des Spitzensteuersatzes.
Einen ausgeglichenen Haushalt wünscht sich ein knappes Viertel der Befragten. Acht Prozent sprechen sich für eine höhere Zuweisung an den Gesundheitsfonds aus, drei Prozent für höhere Sozialausgaben (zum Beispiel Kindergeld) und zwei Prozent für höhere Renten.
Schäubles Denkmal
„Es wäre schon eine große Leistung, wenn es gelingen würde, die politisch motivierten Sonderwünsche der Ministerien zu verhindern“, sagt der Ordnungspolitiker Tim Krieger von der Uni Freiburg. „Wenn ein kleiner Schritt in Richtung nachhaltigem Schuldenabbau gelingen könnte und der Rest des Überschusses zur Verringerung der kalten Progression sowie für einige dringend nötige Ausgaben bei Infrastruktur und Bildung genutzt wird, würde sich Wolfgang Schäuble selbst ein Denkmal setzen.“
Der Finanzwissenschaftler Friedrich Heinemann vom ZEW Mannheim empfiehlt, die Steuersenkungsdiskussion mit einer Steuerstrukturdiskussion zu verbinden. „Bei der Mehrwertsteuer, vor allem dem ermäßigten Steuersatz, bei der Gewerbesteuer und den Grenzsätzen für Einkommensteuer und Sozialabgaben gibt es erheblichen Reformbedarf.“
„Wann, wenn nicht jetzt“
Der Mikroökonom Erwin Amann von der Uni Duisburg-Essen wagt sich angesichts der neuen Überschüsse auf das Feld der Gesetzgebung: „In erster Linie sollte ein Gesetz verabschiedet werden, das die kalte Progression für die Zukunft grundsätzlich aufhebt.“ Dies würde derzeit angesichts niedriger Inflation kaum Kosten verursachen, aber in Zukunft die Politik zwingen, Steuererhöhungen auch so zu bezeichnen, so Amann, der außerdem empfiehlt, alle staatlichen Ausgaben regelmäßig von einer unabhängigen Institution überprüfen zu lassen und nur mit Bundestagsbeschluss zu verlängern. Wilfried Fuhrmann (Uni Potsdam) schlägt zudem vor, die Soziallasten der Migranten (Kranken-, Arbeitslosenversicherung) dem Bund aufzuerlegen, nicht den Versicherten.
Fred Wagner von der Uni Leipzig versieht seine eher knapp gehaltene Empfehlung „Schuldenabbau“ mit drei Ausrufezeichen. „Wieso fragen Sie nicht ausdrücklich danach und geben als Antwortmöglichkeit nur „ausgeglichener Haushalt“ an? Wann sonst, wenn nicht jetzt bei guter Konjunktur und Niedrigzins, sollen Schulden einmal abgebaut werden?“, fragt Wagner.
Ins selbe Horn bläst David Stadelmann von der Uni Bayreuth. „Antizyklische Fiskalpolitik bedeutet auch, in guten Zeiten zu sparen und für künftige Krisen Reserven zu bilden.“
Im Detail: Die einzelnen Stimmen der Volkswirte finden Sie hier! (PDF)