Erstmals seit dem Start im Jahr 2006 hat sich das Ökonomen-Barometer von €uro am Sonntag und des Nachrichtensenders n-tv gegenüber dem Vormonat nicht verändert: Die führenden deutschen Volkswirte schätzen die derzeitige wirtschaftliche Lage exakt so ein wie im Monat zuvor. Der Wert erreicht demnach im Juli erneut 63 Punkte. Der Ausblick auf die kommenden zwölf Monate liegt mit 63,6 Punkten um 2,7 Punkte niedriger als im Vormonat. Erstmals seit Jahresbeginn sind so Stand und Prognose auf gleichem Niveau. Beide Werte liegen immer noch deutlich jenseits der 50-Punkte-Marke, die Stagnation signalisiert. Die führenden deutschen Volkswirte sehen das Hellas-Drama und den China-Crash als kurzfristige Phänomene. Die Rente mit 63 fällt bei den Experten völlig durch.
von W. Ehrensberger, €uro am Sonntag (zum Artikel auf finanzen.net)
Die jüngsten Rückgänge wichtiger Konjunkturindizes wie Ifo-Geschäftsklima, GfK-Konsumklima oder zuletzt des ZEW-Indikators für Konjunkturerwartungen halten die Experten für vorübergehende Unterbrechungen eines anhaltenden Aufwärtstrends. Der China-Crash und das Hellas-Drama werden insgesamt eher als kurzfristige Phänomene wahrgenommen – wobei Chinas Schwäche den meisten als das potenziell größere Problem erscheint. „Nicht so sehr der Grexit ist das Problem, sondern die schlechte Lage der Schwellenländer, allen voran China“, sagt Friedrich Heinemann (ZEW Mannheim). „Arbeitsmarkt- und Einkommensentwicklung sprechen für eine Fortsetzung des Aufschwungs, zumal stärkere Investitionen dazukommen“, so Michael Stahl vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall.
Thomas Gitzel (Chefökonom VP Bank) verweist auf die sich erholende US-Wirtschaft und positive Signale aus den Nachbarländern der Eurozone. „Das dürfte in den kommenden Monaten wieder für Besserung sorgen.“ Andere wie Wilfried Fuhrmann (Uni Potsdam) oder Tim Krieger (Uni Freiburg) registrieren aber auch zunehmende Unsicherheit angesichts der zahlreichen Krisenherde.
Votum gegen Rente mit 63
Vor einem Jahr hat die Große Koalition die abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren eingeführt. Das Interesse daran ist groß: Bis Ende April hat die Rentenversicherung 300 000 Antragsteller gezählt. Wirtschaftsverbände kritisieren, dass diese Regelung zu einer erheblichen Verschärfung des Fachkräftemangels führe und angesichts der demografischen Entwicklung ein falsches Signal setze. 85 Prozent der im Ökonomen-Barometer befragten Experten vertreten ebenfalls diese Meinung.
Lediglich 15 Prozent halten die Regelung für richtig (siehe Grafik). Eine klare Mehrheit von drei Viertel der Experten spricht sich darüber hinaus für eine mittelfristige Erhöhung des Renteneintrittsalters über die Grenze von 67 Jahren aus.
Boris Augurzky vom RWI bringt es auf die knappe Formel: „Steigende Lebenserwartung heißt steigendes Renteneintrittsalter, sonst ist die Rente nicht finanzierbar.“ Viele Experten wie Thomas Gries (Uni Paderborn) schlagen allerdings auch flexible Lösungen vor. „Nicht ein pauschales Anheben der Altersgrenze ist sinnvoll, sondern ein flexibler Übergang sowohl hinsichtlich des Alters als auch der wöchentlichen Stundenleistung“, so Gries. „Dies würde den sehr unterschiedlichen Bedingungen unterschiedlicher Tätigkeiten gerecht werden.“ Zu dieser Flexibilität sollten Gries zufolge auch Mischformen von Rentenbezug und Zuverdienst sinnvoll kombinierbar sein.
Eckard Bomsdorf (Uni Köln) verweist darauf, dass die Rente mit 63 ungerechtfertigte Privilegien schaffe und dem Arbeitsmarkt schade. „Sie widerspricht dem Äquivalenzprinzip und damit dem Gleichheitsgrundsatz der gesetzlichen Rentenversicherung.“ Auch Bomsdorf setzt sich für eine größere Flexibilisierung beim Einstieg in die Rente ein. „Es muss verstärkt möglich sein, früher – natürlich mit Abschlägen – oder später – mit Zuschlägen – in Rente zu gehen.“
Lebenserwartung als Maß
Martin Moryson (Chefvolkswirt Sal. Oppenheim) hält die Einführung der Rente mit 70 für unausweichlich, „wenn man das Verhältnis von Aktiven zu Inaktiven, also Jungen und Alten, in etwa konstant halten will“. Einige Experten wie Friedrich Breyer (Uni Konstanz) oder auch Bruno Schönfelder (Uni Freiberg) empfehlen, das Rentenalter automatisch an die Lebenserwartung zu koppeln, sodass die Laufzeit der Rente gleich bleibt. „Eine solche Automatik wird dem Wähler eher einleuchten“, glaubt Breyer.